Die Forderung nach aufrichtiger Information für eine vertrauensvolle Demokratie

Sollten digitale Plattformen die Garanten für die Wahrheit und das Gute sein?

Laurent Cordonier
20/08/2020

Vor der Entwicklung des Internets war es schwierig, einen Inhalt in großem Umfang zu verbreiten, ohne dass er die Zustimmung der Gatekeeper („Pförtner“) der traditionellen Presse hatte, das heißt der Redaktionsausschüsse, die über die Veröffentlichung einer Information entscheiden. Das Web hat alles geändert, indem es nun erlaubt, diesen Filter zu umgehen: Heutzutage kann jede Person einen Inhalt herstellen und der ganzen Welt durch seine Veröffentlichung auf einer Website oder in einem sozialen Netzwerk zur Verfügung stellen.

Laurent Cordonier
Chercheur en sciences sociales à la Fondation Descartes

Dies ist unbestreitbar ein demokratischer Durchbruch. Zum Beispiel ist es für die Exekutive schwieriger geworden, eine unangenehme Angelegenheit dank einem Druck auf den Redaktionen der großen Medien zu verbergen. Es gibt nämlich keine Garantie dafür, dass ein Journalist oder ein „Whistleblower“ die Information in den sozialen Netzwerken nicht durchsickern lässt. Das Internet hat auch die massive und schnelle Verbreitung von Gerüchten, gefälschten Informationen, Informationsmanipulationen, Verschwörungstheorien und Hassreden erleichtert: Das ist die Kehrseite der Medaille.

Angesichts dieser Situation ist die Versuchung groß, von digitalen Plattformen (Facebook, Twitter, YouTube, Google, usw.) zu verlangen, ihre Seiten aufzuräumen. Wie andere Länder übt Frankreich einen zunehmenden gesetzlichen Druck auf die Betreiber dieser Plattformen aus, indem es sie auffordert, „die Verbreitung falscher Informationen, die die öffentliche Ordnung stören könnten, zu bekämpfen“[1] (Gesetz vom 22. Dezember 2018 zur Bekämpfung der Informationsmanipulation) oder sogar „innerhalb eines Zeitraums von höchstens 24 Stunden [...] alle Inhalte zurückzuziehen, die eindeutige Aufstachelung zum Hass oder diskriminierende Beleidigungen enthalten“[2] (Gesetzesentwurf vom 20. März 2019 zur Bekämpfung des Hasses im Internet, der fast vollständig vom französischen Verfassungsrat zensiert wurde).

Die Staaten sind nicht die einzigen, die Druck auf digitale Plattformen ausüben. Im Zusammenhang mit der antirassistischen Bewegung, die nach dem Tod von George Floyd entstand, haben große Unternehmen wie Coca-Cola und Unilever ihre Werbekampagnen auf Facebook unterbrochen, da sie das soziale Netzwerk beschuldigten, nicht ausreichend gegen rassistische Kommentare auf seinen Seiten zu kämpfen. Die Reaktion des sozialen Netzwerks ließ nicht lange auf sich warten: Facebook hat bereits eine Verschärfung seiner Politik gegenüber Hassreden angekündigt.[3]  YouTube seinerseits behauptet, die Situation in die Hand genommen zu haben, indem es 25 000 Kanäle, die der Verbreitung von Hassreden beschuldigt wurden[4], schloss, darunter die von Alain Soral und Dieudonné M’Bala M’Bala, französische Verschwörungstheoretiker[5], die mehrmals wegen antisemitischer Äußerungen verurteilt wurden.[6]

Man kann sich zwar schwerlich nicht darüber freuen, dass Betreiber sozialer Netzwerke Maßnahmen gegen grobe Desinformationen und schädliche Inhalte treffen, aber man kann sich jedoch fragen, ob es wünschenswert ist, dass sie zu den Garanten für die Wahrheit und das Gute im Internet werden. Besteht nicht die Gefahr, dass die Forderung an sie, zu entscheiden, was gesagt werden darf oder nicht, die Meinungsfreiheit willkürlich einschränkt? Das kann man befürchten. Die Forderung an die digitalen Plattformen, gefälschte Informationen und Hassreden zu bekämpfen, während von ihnen erwartet wird, den Inhalt dieser Kategorien selbst zu bestimmen, könnte nämlich zu einer Form von freiheitsfeindlichen digitalen Vorsichtsmaßnahmen führen.

Soziale Netzwerke verfügen über zwei Mittel, um Fake News oder Hassreden zu identifizieren und zu löschen: Die Meldungen der Benutzer, die dann von Moderatoren analysiert werden, und die Algorithmen zur Erkennung unerwünschter Inhalte. Das Problem mit den Meldungen besteht darin, dass sie subjektiv und nicht immer uneigennützig sind – digitale Gemeinschaften versuchen manchmal, Publikationen ihrer ideologischen Gegner zu entfernen, indem sie ihre Mitglieder dazu auffordern, sie massiv zu melden. Außerdem bleibt die Analyse der gemeldeten Inhalte von den Moderatoren aufgrund des Ausmaßes der bekommenen Daten oberflächlich. Wenn digitale Plattformen aus Furcht vor möglichen gerichtlichen oder wirtschaftlichen Auswirkungen anfangen, lieber zu viel als zu wenig zu moderieren, gibt es ein Risiko, dass jeglicher massiv gemeldeter Inhalt ohne weitere rechtliche Schritte entfernt wird.

Dieselbe digitale Vorsichtsmaßnahme könnte auch für Algorithmen gelten, deren Sensibilität dann erhöht würde, damit keine strittigen Nachrichten durch die Maschen des Netzes schlüpfen. Dies würde natürlich auf Kosten des Löschens von Inhalten gehen, die nicht hätten entfernt werden dürfen. Schließlich könnte sogar die Möglichkeit, sich zu bestimmten Themen, die als sensibel angesehen werden, frei zu äußern, behindert werden.

Das Internet ist allzu häufig eine gesetzlose Zone, in der Hassreden oder betrügende Aussagen ohne Folgen gehalten werden können. Diesen Raum zu einem Ort zu machen, an dem eine willkürliche vorsichtige Moderation der großen Webakteure herrschen würde, ist wahrscheinlich keine wünschenswerte Alternative. Es gibt keine einfachen Lösungen, um Online-Hass und -Desinformationen zu bekämpfen und gleichzeitig die Meinungsfreiheit zu bewahren. Dennoch sind rechtliche Verfahren, die eine schnelle Reaktion auf Aufstachelungen zum Hass im Internet geben und die Sensibilisierung für die Desinformationenmechanismen verbessern, vielleicht vielversprechendere und weniger freiheitsfeindliche Wege als die Verwandlung der digitalen Plattformen in Richter und Polizisten des Webs.

Dieser Artikel wurde ursprünglich in der Zeitung L'Opinion vom 20. August 2020, S.7, veröffentlicht.


[1] https://www.legifrance.gouv.fr/eli/loi/2018/12/22/MICX1808389L/jo/texte

[2] http://www.assemblee-nationale.fr/dyn/15/textes/l15b1785_proposition-loi#

[3] https://www.leparisien.fr/economie/coca-cola-unilever-cinq-minutes-pour-comprendre-le-boycott-de-facebook-par-certaines-grandes-marques-27-06-2020-8343123.php

[4] https://www.liberation.fr/france/2020/07/07/apres-dieudonne-youtube-chasse-soral-et-25-000-autres-precheurs-de-haine_1793580

[5] https://www.conspiracywatch.info/dieudonne-mbala-mbala ; https://www.conspiracywatch.info/egalite-reconciliation

[6] https://www.lemonde.fr/societe/article/2019/11/27/dieudonne-condamne-a-9-000-euros-d-amende-pour-antisemitisme_6020751_3224.html ; https://www.lepoint.fr/justice/alain-soral-condamne-a-un-an-ferme-pour-ses-propos-sur-le-pantheon-02-10-2019-2339049_2386.php

Thematisch :  Digitale Plattformen  
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Formate :    
Land :  Frankreich 
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Sprachen :  Französisch 
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